Endlich! Ich durfte die Energica Ego+, das Flaggschiff von Energica, mit 126 kW (umgerechnet 171 PS) fahren. Hatte ich zuvor bereits das Touring-Modell Experia getestet und war absolut begeistert, so freute ich mich um so mehr auf den Test der Ego+. Immerhin liegen mir die Sportmotorräder als Hobbyrennfahrer sehr am Herzen. Allerdings sollte dieser Test auf der Straße stattfinden und nicht auf der Rennstrecke.
Über e-Motorräder sollte man nicht reden, man sollte sie fahren!
Im Internet, in Foren und bei Gesprächen mit anderen Motorradfahrern hört man immer wieder drei Dinge, wenn es um e-Motorräder geht.
Die entfesseln keine Leidenschaft, weil man den Motor nicht hört.
e-Motorräder haben zu wenig Reichweite.
Man kann nirgends aufladen, vor allem nicht in ländlichen Gebieten.
Dies ist nun zu prüfen. Freitags kann ich die Energica Ego+ für meinen Test in Empfang nehmen. Im Normalfall habe ich mit meinen 1,90 m oft Probleme, mich auf ein Sportmotorrad, insbesondere auf die italienischen, zu „falten“. Die Ego+ überraschte aber bereits beim ersten Probesitzen mit einer verhältnismäßig entspannten und sehr gut passenden Sitzposition. Eine Einweisung war nicht nötig, es ging direkt los.
Intuitive Bedienung
Wie schon beim Test der Energica Experia musste ich zunächst im Regen nach Hause fahren und konnte erst am nächsten Tag auf trockener Straße loslegen. Die Bedienung des Fahrzeugs ist denkbar einfach und kann entspannt mit beiden Händen an den Lenkerstummeln erfolgen. Wer einmal gezeigt bekommen hat, wie man sie startet und den Fahrmodus wechselt, weiß eigentlich schon genug. Der Rest ergibt sich. Zu Beginn des Tests habe ich dann den Fahrmodus der Energica Ego+ auf „Race“ umgestellt und mich entschieden die Traktionskontrolle auf mittlerer Stufe zu belassen. Eine sehr gute Entscheidung, wie sich herausstellen sollte. Das einzig gewöhnungsbedürftige in der Bedienung ist, wie ich finde, dass es, nachdem man den Start-Knopf gedrückt hat, einen Moment dauert, bevor der Motor Leistung liefert. Erst nachdem man ein Klicken hört, kann man Gas geben. Dreht man vorher ungeduldig am Gasgriff, weil es endlich losgehen soll, so überrascht einen das Motorrad mit einem gewaltigen Tritt in den Rücken. Hier könnte man softwareseitig eine Sicherung einbauen, damit gerade unerfahrene Fahrer nicht beim ersten Startversuch auf dem Rücken landen und einen nicht unerheblichen Schaden verursachen. Es sei mit einem Augenzwinkern angemerkt, dass selbst e-Roller eine solche Sicherung aufweisen.
Sportliches Design bis ins Detail
Die Verarbeitungsqualität der Ego+ ist bis auf ein paar Spalte und Übergänge sehr gut. Die glänzenden Carbon-Bauteile stechen sofort ins Auge. Das Scharnier des Sitzes, welchen man zum Laden nach oben klappt, rastet ein, sodass man beide Hände frei hat, um die Ladestationen zu bedienen. Schöne kleine Detaillösungen, wo das Auge hinschaut. Ein ansprechendes Design liegt natürlich immer im Auge des Betrachters, daher darf sich hier jeder gerne selbst entscheiden, ob ihm/ihr die Ego+ gefällt. Einzig das Fehlen eines kleinen Staufachs für Handy, Schlüssel und EC-Karte schmälert den sehr guten ersten Eindruck. Ist man in einer Lederkombi gekleidet unterwegs, so fehlt einem jede Möglichkeit der Unterbringung. Hier könnte Energica noch nachbessern.
Der Energica Ego Test beweist: Motorsound ist nicht alles
Punkt eins kann ich widersprechen. Wenn man erst mal fährt, überzeugt die erstklassige Fahrleistung und der Motor. Der Gedanke an das Fehlen eines Motorsounds ist mir beim Fahren nie gekommen. Nur die Lautstärke des Getriebes, wenn es wie eine Turbine pfeift, war störend.
Exzellentes Fahrverhalten
Die Ego+ überzeugt mit einem sehr hohen Maß an Präzision im Lenkverhalten und einem super Antrieb. Jedes sanfte zupfen am Lenkerstummel wird bereitwillig in einen Richtungswechsel umgesetzt, das Motorrad fährt genau dahin, wo man es haben möchte, und verlangt eigentlich die ganze Zeit immer nach mehr Schräglage. Die Stabilität in den Kurven ist exzellent, man hat jederzeit das Gefühl man kann sich komplett gegen das Motorrad lehnen und es bleibt wie festgeschraubt. Egal ob weite Kurven oder schnelle Richtungswechsel ein kurzer Lenkimpuls und schon fährt man in die gewünschte Richtung. Es ist keine Eingewöhnung nötig, das Fahrzeug lässt sich so leicht und intuitiv fahren, dass es niemanden überfordern sollte. Das Drehmoment des Motors liegt bei der geringsten Drehung des Gasgriffs sofort an. So macht fahren Spaß. Aus dem Stand muss man enorm aufpassen, gibt man einfach Vollgas, dann dreht das Hinterrad durch bzw. die Traktionskontrolle greift ein. Ein kurzer Adrenalinstoß ist aber immer dabei, wenn das Heck anfängt, von links nach rechts zu zucken. Der Durchzug auf der Autobahn ist beeindruckend. Von 100 km/h aus geht es in großen Schritten bis zu 200 km/h und dann darüber hinaus. Es gibt schier kein halten, bis dann bei ca. 250 km/h der Antrieb vor dem Luftwiderstand kapituliert. Die Rekuperation/Motorbremse lässt sich in 4 Stufen einstellen, bzw. in 3 Stufen und eine völlige Abschaltung. In den meisten Fällen ist Stufe 2 ideal, will man aber etwas sportlicher fahren, so empfehle ich Stufe 3. Die hydraulische Bremse ist dann kaum noch nötig.
Mir fiel auf, dass die Kraftentfaltung der Motorbremse nicht immer gleich war. Ich konnte aber nicht herausfinden, ob dies evtl. an der Akkutemperatur oder dem Grip am Hinterrad lag.
Akkuleistung ist mehr als ausreichend
Bei geringem Akkustand setzt dann eine sehr deutlich zu spürende Leistungsreduzierung ein. Da die Leistungsreduzierung aber erst unter 15 % Akkustand einsetzt, und man seinen Akku auch lange nutzen will, ist das völlig in Ordnung.
Mit leerem Akku muss man dann nun auch laden. Egal ob zu Hause an der Wallbox oder dem Steckdosenadapter, Kabelanstecken und das Fahrzeug lädt. In diesem Fall mit moderaten 3,3 kW. Aber über Nacht ist das nicht relevant, weil auch hier im schlimmsten Fall 8 Stunden ausreichen. Soweit so gut. Wie sieht es nun auf der Landstraße aus? Je nach Fahrweise schafft man mit der Ego+ zwischen 160 und 230 km, je nachdem, ob man enorm sportlich oder gemütlich unterwegs ist. Das bedeutet eine Fahrzeit von guten 2 bis 4 Stunden. Ich kann berichten, dass sich Knie, Rücken, Nacken und Handgelenke nach 3 Stunden über jede kurze Pause freuen. Die Reichweite ist sehr gut gewählt, sodass man auch mit seiner Freundesgruppe mitfahren kann, selbst wenn diese noch mit „Dinobrause“ unterwegs sind, diese müssen nach 160 km härterer Gangart nämlich auch zur Tankstelle und sind in der Regel froh über eine kleine Pause. Somit ist auch der zweite Kritikpunkt widerlegt.
Ladeinfrastruktur ist auch in der Eifel vorhanden
Bleibt noch der Mythos, man kann Elektro-Motorräder nirgends aufladen, vor allem nicht da, wo man gut fahren kann. Also bin ich in der schönen Eifel mit ihren wunderbaren Straßen unterwegs, um zu schauen, wo ich denn stranden werde, wenn mir der Akku leer geht. Ich habe meine bewährte Strategie angewendet, einfach mal draufloszufahren und dann bei ca. 20 % Akkustand mittels Handys einen Schnelllader finden. Stand doch noch die Thematik der fehlenden Ladeinfrastruktur in der Eifel (oder ähnlich ländlichen Gebieten) im Raum. Als der Akku fast leer war, fand ich in ca. 15 km Entfernung einen Ladepunkt an einem Supermarkt. Ich saß seit gut 3 Stunden auf dem Motorrad und war froh mich nochmal bewegen zu können. Nach ca. 40 Minuten, einem belegten Brötchen aus der Bäckerei und einem energiespendenden Kaltgetränk, ging es weiter. Der Standort dieser Ladesäule zwischen Stadtkyll und Jünkerath, was in etwa so weit in der Eifel ist, wie es die Namen vermuten lassen, beweist schon mal, dass auch dieses Argument nicht greift.
Energica Ego+ ist ein Blickfang
Egal wo man hinkommt, lenkt die Ego+ die Blicke auf sich. Sei es bei einer kurzen Pause am Nürburgring, am Schnellader oder an der Ampel. Ein Elektromotorrad ist heute noch etwas Neues und Aufregendes, in etwa so wie ein Tesla noch vor 4 Jahren. Sollte in diesem Segment die Adaption ähnlich schnell verlaufen wie bei den PKW, dann müssen die großen Hersteller langsam nachziehen, sonst ist die Energica zu gut.
Energica Ego 2022 vs. Energica Ego+ 2024 - der Unterschied:
Der Elektromotor der Energica wurde im beim Modelljahr 2024 verbessert. Die Ego+ bietet nun mit 171 PS bei 8.500 Umdrehungen einen spürbaren Unterschied im Vergleich zur Ego mit 145 PS bei 6.000 U / min.
Energica Ego+: die Daten im Überblick
Motor:
Dauerleistung: 110 kW / 149 PS bei 8.500 U/min
Spitzenleistung: 126 kW / 171 PS bei 8.500 U/min
Drehmoment: 222 Nm / 164 lb ft
Höchstgeschwindigkeit: 240 km/h
ABS Bremsen vorne und hinten
Eigengewicht 260 kg
zulässiges Gesamtgewicht 458 kg
Führerschein A2
Batterie:
Max 21,5 kWh / Nominal 18,9 kWh
Lebensdauer 1200 Zyklen bei 80 % Kapazität (100 % DOD)
Aufladen: DC Schnellladung oder AC Langsamlademodus
Reichweite: bis zu 256 km kombiniert
Fazit zum Energica Ego+ Test:
Mein Fazit dieses Tests ist, dass Energica mit der Ego+ ein wirklich heißes Eisen auf die Landstraße legt, was einem das Herz höher schlagen lässt. Selten bin ich so zufrieden und aufgeregt Motorrad gefahren. Würde man mich fragen, ob ich die Experia oder die Ego+ präferieren würde, ich müsste vermutlich antworten, dass ich im Idealfall einfach beide hätte.
Update: Wie geht es mit Energica nach der Insolvenz weiter?
Der italienische Elektromotorradhersteller Energica Motor Company SpA, der auf rein elektrisch betriebene Motorräder spezialisierte Hersteller aus Modena (Italien) ist pleite und hat am 14. Oktober 2024 beschlossen, die gerichtliche Liquidation einzuleiten.
Ob die Marke Energica nach dem Insolvenzverfahren durch neue Investoren oder Besitzer wiederbelebt wird, steht noch in den Sternen. Wir hoffen jedenfalls auf eine Rückkehr der sportlichen und leistungsstarken e-Motorräder aus Italien.
Der Test-Bericht der Energica Ego+ wurde vor Bekanntgabe der Insolvenz erstellt.